Zum Palmsonntag – Jürg Bräker

La prédication de Georges Kobi est à lire ici

Zahlen halten mich in Bann in diesen Tagen. Zehntausende Wanderarbeiter in Indien machen sich auf Weg nach Hause, 600 Kilometer, und sie wissen nicht, wie sie den Weg bewältigen können. Jeden Tag die neusten Zahlen von Neuinfizierungen, Kurven mit Mortalitätsraten. Milliarden und Billionen an Unterstützungshilfe. Ich lese diese Zahlen, weil sie mir helfen sollen einzuordnen, was gerade geschieht. Die Zahlen sind wichtig, sie sind Grundlagen für Entscheide, die viele Leben retten können. Sie helfen mir auch, die einschneidenden Massnahmen zu akzeptieren. Und es ist nicht so, dass hinter den Zahlen die Einzelschicksale vergessen blieben. Im Gegenteil, gerade weil ein jedes Menschenleben zählt, sind wir bereit, schwere Folgen für die Wirtschaft in Kauf zu nehmen. Bill Gates brachte es auf den Punkt: «Die Wirtschaft bauen wir wieder auf. Aber die Toten holen wir nicht zurück.» Und doch werden in diesen Tagen auch Stimmen laut, man müsse die Balance halten. Und ist sie da nicht unterschwellig mit drin, die Frage nach dem Wert des einzelnen Lebens? Lässt der sich auch in Zahlen fassen?

Aber was mache ich mit diesen Zahlen und Informationen in meinem Alltag, in diesem neuen Alltag, der sich langsam einstellt? Sie halten mich halt doch in den Bann, diese riesigen Summen, und ich frage, was ich denn in dieser grossen Not tun kann. Auch in der Geschichte, die für den heutigen Palmsonntag vorgesehen ist, geht es um die Frage nach den grossen Nöten, geht es um Zahlen, und es geht um die Tat an einem einzelnen Menschen.

3 Als Jesus in Betanien im Haus Simons des Aussätzigen war und bei Tisch sass, kam eine Frau mit einem Alabastergefäss voll echten, kostbaren Nardenöls; sie zerbrach das Gefäss und goss es ihm über das Haupt.
4 Da wurden einige unwillig und sagten zueinander: Wozu geschah diese Verschwendung des Öls? 5 Dieses Öl hätte man für mehr als dreihundert Denar verkaufen und den Erlös den Armen geben können. Und sie fuhren sie an.

6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bringt ihr sie in Verlegenheit? Sie hat eine schöne Tat an mir vollbracht. 7 Arme habt ihr ja allezeit bei euch und könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Was sie vermochte, hat sie getan. Sie hat meinen Leib im Voraus zum Begräbnis gesalbt.

9 Amen, ich sage euch: Wo immer in der ganzen Welt das Evangelium verkündigt wird, da wird auch erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.

Markus 14,3-9

In den Tagen nach seinem Einzug auf einem Esel in Jerusalem geht Jesus am Abend jeweils wieder nach Betanien hinaus. Er ist da bei Freunden zuhause. Vermutlich ist Simon einer, der vom Aussatz geheilt worden war, seine Geschichte ist uns nicht bekannt, aber sie muss so wichtig gewesen sein, dass sie in seinen Namen einging: Simon, der Aussätzige. Eine Erinnerung an eine Vergangenheit, in der Simon in Isolation leben musste, ein Ausgegrenzter, in einer Zeit, in der man rasch bereit war, Kranke als von Gott Gestrafte anzusehen. Jesus hat dieser Ansicht vehement widersprochen, und nicht nur das, er hat die Krankheit als Gelegenheit gesehen, dass Gott an diesen Menschen handeln kann. Gott ist derjenige, der sich den Ausgegrenzten zuwendet, sie berührt, sie mit Lebenskraft füllt und heimholt. So ist Simon der Aussätzige, jetzt auch Simon der Geheilte. Das ist jetzt nur Hintergrund; aber vielleicht gar nicht so unwichtig für das, was in diesem Haus geschieht.

Jesus ist bei seinem Gastgeber zu Tisch mit seinen Jüngern. Nach einem weiteren langen Tag in Jerusalem sind sie zurück bei Freunden. In den Gesprächen in der Stadt hat Jesus in die grossen Weltbewegungen geblickt, hat über Zeichen gesprochen, welche die Menschen beunruhigen, von Bedrängnis (Mk.13,19.) Die Jünger mögen sich gefragt haben, was dann ihre Rolle sein wird, wie sie sich als Gemeinschaft in diesen schweren Zeiten verhalten wollen, wenn die Welt aus den Fugen zu geraten scheint. Vielleicht gehen diese Gespräche noch jetzt am Tisch weiter. Jesus hat sie zur Wachsamkeit aufgefordert, sie aber ebenso davor gewarnt, zu schnell ihre Schlüsse zu ziehen.

Die Szene, die nun am Tisch folgt, ist intim, im kleinen Raum und nimmt nicht die ganze Welt in den Blick. Und hat doch auch mit der grossen Perspektive zu tun. Denn in alle Zeiten wird diese Tat hinausgetragen, dieser Frau soll gedacht werden, wo immer Evangelium, gute Botschaft verkündet wird. Gerade auch in schwierigen Zeiten, in denen die Menschheit weltweit verunsichert ist. Die Frau und ihre Tat sind untrennbar verknüpft mit der guten Nachricht, die gerade denen angekündigt wird, die leiden. Jesus nennt es eine schöne Tat. Kalos, in diesem Wort ist das Schöne, das Gute, das Angemessene und das Weise eins. Das, was jetzt richtig ist. Die Frau kommt herein, zerbricht das Alabastergefäss, das sie mitgebracht hat und giesst das Nardenöl aus über das Haupt Jesu. Sie salbt ihn mit Öl, das Öl tränkt seine Haare, seine Haut nimmt es auf. Der intensive Geruch erfüllt das ganz Haus, stärker als der Geruch der Speisen, der Kleider, der Tiere und was sonst noch so zu den Hausgerüchen gehört.

(Der in Europa beheimatete Speik ist der Narde verwandt, die vor allem im Himalaya vorkommt. Der Speik wurde früher auf Alpweiden geerntet und in eigenen Stadeln getrocknet. In diese Stadel sperrte man auch Leute ein, die bei kleineren Verbrechen gefasst wurde, etwa Diebstahl. Nach einigen Tagen im Stadel haftete der Duft den so Geächteten noch über Wochen an und diente der Warnung. Diese Anekdote gibt einen Eindruck von der Intensität des Geruches).

Und ich stelle mir vor, wie sie den Atem anhielten, die da am Tisch sassen. Nicht nur, weil der Duft so intensiv war. Sondern auch, weil da etwas ausnehmend Besonderes, ja geradezu Unerhörtes geschah. Dieses Gefäss war ein wohl lang gehüteter Schatz. Aufgespart und aufgehoben für eine ganz besondere Gelegenheit. Wie eine sehr seltene, teure Flasche Wein, bei der man sich fragt: Soll ich sie trinken oder besser verkaufen? Längst nicht jeder und jede im Dorf hatte etwas so Wertvolles in seinem Besitz. Das war nicht nur ein Schmuckstück, das war auch eine Rücklage für schwere Zeiten. Ein Arbeiter schuftete ein Jahr lang für den Preis dieses Öls.
Es war auch ein Versprechen, eine Vorfreude auf den einen besonderen Moment im Leben hin, für den dieses Öl war. Aber war das denn jetzt ein so besonderer Moment? Was rechtfertigt es, dass sie jetzt dieses Gefäss zerbricht, das Öl ausschüttet, unwiderruflich hingegeben? Ist diese Frau noch ganz bei Trost?

Die Reaktion ist deutlich: Da ärgern sich Einige mächtig, sie fragen nicht nur: «Wo ist hier der besondere Anlass?», das Urteil ist in der Frage schon gefällt: Das ist eine Verschwendung, da wird Wertvolles vergeudet, zerstört. Eben gar nicht angemessen. Sie haben mit ihrem Einwand nicht unrecht, dass man das Öl hätte verkaufen und mit dem Geld Armen etwas Erleichterung verschaffen können. — Ich kann ihnen nicht widersprechen, wäre das denn nicht wirklich gute Botschaft für viele, wenn sie sich für einige Tage keine Sorgen ums Nötigste machen müssten? — Aber dieser Einwand bringt auch ans Licht, aus welchem Blickwinkel sie die Sache ansehen: Das Öl im Fläschchen ist gar nicht dazu gedacht, gebraucht zu werden, das kann sich hier unter den Anwesenden niemand leisten. Wer das Gefäss zerbricht, verschüttet seinen Wert. Sein Wert muss umgemünzt werden, dann kann man damit Gutes tun. Das Versprechen, der besondere Moment, das gehört gar nicht in das Leben der Frau, gehört sich auch nicht für irgendeinen im Haus hier. Das ist eine Kostbarkeit, die man sich nicht leisten darf angesichts der Nöte dieser Welt.

Aber da ist noch ein ganz anderer Blickwinkel. Die um den Tisch sitzen, übersehen scheinbar, dass die Frau das Öl ja nicht verschüttet, sondern Jesus damit salbt. Es ist eine Tat an ihm. Die Frau hat ihre Gabe so eingesetzt, dass sie ihre Wirkung entfaltet. Für sie ist es nicht für einen Moment, der nie kommen wird, sondern für diesen Moment jetzt. Das Nardenöl ist jetzt nicht mehr ein Wert für andere Zeiten, eine Zahl. Es verströmt jetzt seinen Duft, erfüllt jetzt das Haus. Unwiderruflich, intensiv. Die Frau hat ihren wertvollen Schatz nicht nur verschenkt, sie hat Jesus diesen ganz besonderen Moment geschenkt, den es wahrscheinlich nur einmal in ihrem Leben gibt, wenn sie dieses Gefäss zerbricht.

Sie hat nur diesem einen Menschen zugesprochen, wie wertvoll er ihr ist. Es ist eine Tat der Liebe. Ein Wort, das nicht verklingt. All die anderen Möglichkeiten, was auch noch mit diesem Öl hätte getan werden können, geben nun diesem Wort, dieser Tat Gewicht. Auf all die Möglichkeiten verzichtet sie jetzt und sagt: «Du bist es wert.»

Jesus versteht dieses Wort. Seine Antwort auf den Vorwurf der Vergeudung spielt nicht die Bedürfnisse der Armen gegen diesen einen Moment aus. Aber Jesus hebt hervor, dass es mitten in den drängenden Nöten dieser Welt auch den Moment gibt für das Eine, das jetzt gut, richtig, schön, weise und wahr ist. Einfach, weil es jetzt für den Menschen ist, den ich beschenken möchte. Wenn die Nöte der Armen nur noch Zahlen sind, dann überfordert mich das nicht nur, es kann geradezu lähmen. Welche unter den unzähligen Möglichkeiten soll ich wählen, wenn ich doch nur beschränkte Ressourcen habe und so viel getan werden müsste? Und was macht meine Tat denn aus in diesem Meer von Problemen? Was zählt das Leben eines Einzelnen, wenn wir täglich von Tausenden von Toten lesen? Bedeutet es da noch etwas, dass jeder einzelne Mensch mit seinem ganz eigenen Leben wertvoll ist, ein Leben, das er teilt mit seinen Freunden, mit denen, die im nahe sind (und auch mit denen, mit denen er nicht zurechtkommt)? An dem Blick in die grossen Zahlen kann ich verzweifeln, resignieren. Die Summen können den Wert, das Schicksal des Einzelnen in sich verschlingen.

Jesus aber lenkt den Blick auf eine Wahrheit, die zwar nicht übersieht, dass wir Antworten finden müssen auf die Nöte, die hinter den Zahlen stehen, aber doch etwas Anderes hervorhebt : «Mich aber habt ihr nicht allezeit.» Es gibt auch Raum für den einen intimen, persönlichen Moment, der nicht aufgesogen wird in seinem Nutzen von all dem, was auch noch drängt. Es gibt Vieles, das wichtig ist, und es bleibt wichtig, dass wir das im Auge behalten. Aber es gibt nicht nur das grosse Ganze. Es gibt auch den Wert des einen Momentes, den ich nicht einrechnen muss, was er im Gesamten bewirkt. Mitten in den riesigen Zahlen bleibt auch der einzelne Mensch, der für mich zählt. Die Tatsache, dass wir jetzt bereit sind, auf so vieles zu verzichten, weist doch auch darauf hin, dass wir eine Ahnung haben von dem Wert eines Lebens, das nicht mit dem grossen Ganzen verrechnet werden kann.

Und da ist noch dieser wichtige Zusatz in der Antwort von Jesus: «Was sie vermochte, hat sie getan.» Was ich vermag, hängt nicht nur von dem ab, was ich könnte oder was ich habe, dem vorhandenen Potential. Es hängt auch von den Gelegenheiten ab, die mir begegnen. Nicht alles ist allezeit möglich. Es gibt Wichtiges, das nur jetzt getan werden kann. Es ist auch eine Gabe, zu erkennen, was dieser Mensch vor mir jetzt braucht. Die Frau hat erkannt, dass es jetzt richtig ist, diese Tat an Jesus zu tun. Ihn mit ihrer Liebe herauszuheben aus all dem Drängenden und dazu zu stehen, wie kostbar das Leben dieses Mannes ist. Das vermochte sie, weil sie ihn erkannte und weil sie das, was sie hatte, mit ihm zusammenbrachte. Solche Taten sind ein Wagnis, denn ich kann ja meist nur zu einem kleinen Teil abschätzen, was ich bewirken kann. Oft entsteht viel mehr daraus, als ich absehen kann.

Ich habe den Eindruck, dass uns der Wert solcher Taten in diesen Tagen bewusster geworden ist, vielleicht gerade, weil wir den Verlauf der grossen Linien nicht einschätzen können. Wenn wir einem Nachbarn beistehen, uns etwas mehr Zeit nehmen für ein Gespräch, nachfragen, wo ich helfen kann, dann ist das mehr als nur ein Versuch, der Ohnmacht zu begegnen, die mich lähmen könnte, weil wir nicht wissen, worauf wir zugehen. Es ist mehr als Aktivismus, mit dem wir die Angst vor dem Ungewissen eine Armlänge von uns weghalten. Es sind Taten, die ihren ganz eigenen Wert haben und behalten, die vielleicht weit mehr bewirken, als wir ahnen. Es sind schöne Taten, in denen wir auch etwas von der Schönheit erfahren, die wir nur erahnen, die Schönheit des Lebens Jesu, der sein Leben für andere, anderen zugute gelebt hat. Wir erleben den tiefen Trost dieser Momente, wenn ich schlicht weiss: Das war jetzt richtig, schön, weise und wahr.

Für Jesus verändert diese Tat der Frau die Tage, durch die er jetzt gehen muss. Die intime Liebe, in die er hineingenommen wurde, dieser Erweis: «Du bist es wert!» begleitet ihn jetzt durch die Stadt Jerusalem. — Düfte können längst Vergangenes schlagartig in die Gegenwart holen. Der Duft von warmem Mehl und frisch gebackenen Weissbrot – da bin ich plötzlich wieder an jenem Wintermorgen in Leontica, als ich vor einer Bäckerei diesen Duft zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Oder Kartoffeln mit Rosmarin und Olivenöl – wenn ich sie aus dem Ofen nehme, bin ich an jenem lauen Abend in Südfrankreich, auf der Terrasse mit Freunden, guten Gesprächen und schönen Tagen am Meer. Noch heute kann ich heraufholen, wie es roch im Flur im Haus meiner Grosseltern. Es sind nicht nur Bilder, die mit den Erinnerungen kommen, es sind die Gefühle, die Schönheit, Wärme, der Trost und Geborgenheit, die mit ihnen da sind. Der Duft ist oft eine Brücke hin zu längst Vergangenem, er kann eine Tür öffnen, die mich mit der Kraft jener Momente verbindet.

Jesus wird den Duft des Nardenöls in den kommenden Tagen mit sich tragen. Sein Haar, seine Haut werden noch wochenlang danach duften. Der Duft wird als stärkende Erinnerung mit dabei sein, wenn Jesus in Gethsemane mit der Todesangst ringt. Der edle Duft wird bei Pilatus vielleicht für eine kleine Verwunderung sorgen; eine Irritation, die ihn fragen lässt, mit wem er es hier wirklich zu tun hat. Der Duft der Narde ist auch da nicht ganz verschwunden, wenn Jesus gedemütigt, gefoltert und alleine dem Tod ausgesetzt wird, der eigenen Ohnmacht ausgeliefert. Immer wird da auch dieser Wahrheitsmoment der Liebe, diese schöne Tat mit ihm sein, die ihm versichert, wie wertvoll er den Seinen ist.

Jürg Bräker