Gedanken zum Sonntag, 17. Mai 2020 – von Paul Veraguth
Kurzer Rückblick
Ihr Lieben, die Taufgesinnten konnten immer auf eine glorreiche Zeit zurückblicken. Zu den Prunkstücken der Vergangenheit gehört das vorbildliche und tapfere Zeugnis der ersten Täufergeneration. Dazu gehören deren frühen Schriften, die kleinen lebendigen Gemeinden, die unerschrockenen Täuferlehrer, die Bereitschaft, um des Glaubens alles hinter sich zu lassen, und die Fähigkeit der Überlebenden der Verfolgungszeit, woanders unter schwierigen Verhältnissen ein neues Leben aufzubauen. Und natürlich noch viel mehr.
Die Hauptelemente, welche die Gemeinden einigten, waren die Glaubenstaufe, das einfältige Schriftverständnis, das Liedgut und das geschwisterliche, dh familiäre und unhierarchische Gemeindeleben. Besonders ragte die friedensstiftende Kraft der Versöhnung und die Verweigerung der Gewalt heraus. Daraus haben sich nun jahrhundertealte Traditionen und ein entsprechendes Bewusstsein entwickelt. Es gibt eine täuferische Kultur, die auf beiden Seiten des Atlantiks spürbar ist.
Wie die Täufer, so hatte auch das Volk des alten Bundes eine Mitte. Sie war unersetzbar. Sie bestimmte ihre Geschichte, ihren Glauben und die Art ihres Gottesdienstes. Man nannte sie in Hebräisch «Gnadenthron», «Sühnedeckel» oder «Lade des Zeugnisses». Heute wird sie vereinfacht als «Bundeslade» bezeichnet. Wo immer Israel Geschichte schrieb: Die Bundeslade war dabei. Sie zog vor dem Volk her, als es durch die Wüste zog. Im Verlauf dieser vierzig Jahre kamen verschiedene Gegenstände in diesen Kasten aus Holz und Gold, so die beiden Steintafeln der zehn Gebote, die Schriftrollen von Moses, ein wenig Manna und der Stab des Hohepriesters Aaron.
Sie war dabei, als sich der Jordan teilte: Mitten im Fluss standen die Priester mit ihr, so dass sich das Wasser staute. Als Jericho fiel, wurde sie dem trompetenden Volk vorangetragen. Dem Priester Eli kam sie abhanden, brachte aber den Philistern ausschliesslich Plagen, so dass die Feinde Israels sie mit Geschenken an Eli zurückschickten. Als David das Heiligtum auf dem eroberten Berg Zion einweihte, brachte man sie herbei. Als Israel von den Babyloniern umzingelt war, befahl Jeremia seinen Jüngern, sie zu verstecken (2. Makk. 2,5). Sie gruben einen Tunnel unter der Stadtmauer durch und verbargen sie am Ende dieses Stollens in einer Kammer. So wurde sie nicht nach Babel verschleppt.
Warum gab Gott seinem Volk die Lade nicht zurück?
Das erste, was 70 Jahre nach der Wegführung ins Exil hätte geschehen müssen, wäre doch die Bergung der Lade gewesen. Es geschah aber nicht. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Jeremia liess dafür sorgen, dass sie nicht leicht zu finden sei – eigentlich unauffindbar. So musste Israel fortan improvisieren, wenn der Versöhnungstag (Jom Kippur) anbrach. Man konnte das Blut der Versöhnung (des «Sündenbocks») nicht mehr ins Allerheiligste tragen und es dort auf den «Sühnedeckel» streichen. Gab es diesen jährlichen Versöhnungsakt überhaupt noch? Gab es noch die Vergebung für alles Sünden eines ganzen Jahres, wenn die Lade nicht mehr im Allerheiligsten auf ihren grossen Tag wartete? Man musste im Volk diese Frage offenlassen.
Ich selber gehe davon aus, dass die meisten Zurückgekehrten – und wohl auch der Grossteil der Priester – nicht Bescheid wussten, dass hinter dem schweren Vorhang im Tempel gar keine Lade mehr stand. Der diensthabende Hohepriester tat einfach «als ob», wenn er mit dem Blut feierlich hinter den Vorhang schritt. Ichvermute, dass dort ein improvisierter Tisch stand; irgendetwas hat man wohl gebastelt. So wurde das Gewissen der Sünder auch entlastet, wenn die Menschen diesem Akt der Versöhnung in den Vorhöfen des Tempels beiwohnten. Um hier ganz ehrlich zu sein: Gott vergibt den Reumütigen immer, Lade hin oder her.
Und nun betrachten wir den wichtigen Text, der gut in die Zeit zwischen Karfreitag/Ostern und Pfingsten passt – also genau in das Zeitfenster, in welchem wir heute stehen:
Und es wird geschehen, wenn ihr euch im Land vermehrt und fruchtbar seid in jenen Tagen, spricht der HERR, wird man nicht mehr sagen: «Die Bundeslade des HERRN»; und sie wird keinem mehr in den Sinn kommen, und man wird nicht mehr an sie denken noch sie suchen, und sie wird nicht wiederhergestellt werden. In jener Zeit wird man Jerusalem den Thron des HERRN nennen, und alle Nationen werden sich zu ihr versammeln wegen des Namens des HERRN in Jerusalem. Und sie werden nicht mehr der Verstocktheit ihres bösen Herzens folgen. Jeremia 3, 16-17
Gott hat seinem Volk also das Liebste weggenommen, ihr Prunkstück, den Kern ihrer Identität. Soll das eine Verlängerung der Strafe darstellen? Will er ihnen bei der Rückkehr ins Land quasi nur den Wohnraum zurückerstatten, sie aber religiös kastrieren? Können sie ihm denn noch sinnvolle Versöhnungstage anbieten, oder er ihnen, wenn im Allerheiligsten gähnende Leere herrscht? Es wurde nach 70 n. Chr. sogar noch krasser: Da sie den Tempel nicht mehr hatten, gab es auch das Versöhnungsritual mit dem Sündenbock nicht mehr, und sie gingen in der Fremde dazu über, aus purer Not und menschlichem Gebastel heraus, für den Versöhnungstag Hühner zu schlachten. Und das, obschon ein Huhn nie und nimmer ein Opfertier für Gott gewesen war, auch wenn ein Hühnerbraten durchaus schmeckt.
Nein, Gott wollte sie weder strafen noch religiös kastrieren. Er bereitete sie für etwas viel Grösseres vor. Das bisherige – und sogar das Beste des Bisherigen, die Bundeslade – wird dagegen nur ein Schatten sein, ein Abglanz, ein vorläufiges Symbol, ein Übungsstück, ein irdisches Modell usw. Gott musste es ihnen wegnehmen, sonst hätten sie nicht wachsen können. Sie klebten an der alten Lade, wie ein Pubertierender manchmal noch an seinen Kindheitserinnerungen klebt oder wie Eltern ihren Nachwuchs auch nach deren Heirat nicht wirklich loslassen können. Jawohl, das geschieht leider immer wieder. So kam es, dass im Moment, wo Jesus starb, der Vorhang im Tempel «von obenan bis untenaus zerriss». Ratsch! Ein Aufschrei im Tempel – das Allerheiligste steht schutzlos vor den diensthabenden Priestern. Gleichzeitig sind sie selber nicht mehr vor diesem (etwas unheimlichen) Allerheiligsten geschützt, in dessen Raum jeder Unbefugte nach dem Gesetz von Moses sterben würde.
Die Menschen rennen Hals über Kopf hinaus – aber nicht ohne vorher Notiz genommen zu haben, dass in dessen Innern gar keine Bundeslade steht. Ein Schreck geht durch ganz Jerusalem. Wie wird man den «Grossen Sabbat», den Doppelsabbat der Passahfeier, begehen können, wenn eine solche Katastrophe im Tempel geschehen ist? Man darf ja gar nicht mehr hinein, denn plötzlich ist der ganze Raum des Heiligtums zum Allerheiligsten geworden, oder das Allerheiligste ist profan geworden. Ein unbetretbarer Raum. Und wie bei Tschernobyl dann ein paar Arbeiter geschickt wurden, denen man nichts von der Verstrahlung sagte, so mussten wohl auch hier ein paar Handwerker im Auftrag von Hannas und Kaiphas den Vorhang reparieren gehen. Gestorben sind sie dabei sicher nicht.
Es geschah um unseretwillen
Vergessen wir nicht, was während dieser Pleite im Tempel draussen geschah, vor den Toren Jerusalems: Grad eben ist Jesus Christus am Kreuz elendiglich gestorben, nicht ohne vorher noch die Generalamnestie auszusprechen: «Vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.» Der Sündenbock des Passah-Festes und des Jom Kippur ist gar nicht ein Lamm oder eine Geiss, sondern es ist ein Mensch. Tierblut wird nie jemanden von Schuld reinigen– wie sollte es auch. Nur Gott kann dies tun, und nur so, dass er die Schuld selber übernimmt. Eine Drittperson zwischen dem dreieinigen Gott und dem der Sünde verfallenen Adam gibt es nicht. Auch nicht eine andere Instanz wie zum Beispiel die Bundeslade. Das wahre Lamm ist Christus, die wahre Bundeslade ist auch er, nämlich die «Lade des Zeugnisses». Das Gerät von Holz und Gold war bloss eine Veranschaulichung. Im Rückblick sind solcherlei Rituale religiöser Stoff.
Gottes Plan war immer schon ein ganz anderer, und Jeremia hat es vorausgesagt: Man wird das Alte vergessen, nicht mehr daran denken, es nicht mehr nachbauen. Jerusalem selber wird Gottes Thron sein, und zwar nicht sein Gemäuer, sondern die Menschen, die dort leben. Sonst hätte Gott ja ein altes Sinnbild bloss durch ein neues ersetzt. Aber das Alte ist wirklich mit Jesus am Kreuz gestorben – alles Alte, und restlos. Es wird nicht auferstehen, sondern Er ist auferstanden, er allein. Nicht auch noch die Bundeslade, und auch nicht die alte Tempelordnung mit Vorhängen und Leuchtern und Räuchereien. Hat nicht er selber vor seinem Tod vorausgesagt, er würde den Tempel abreissen und in drei Tagen neu aufbauen? Und er sprach ja in Joh. 2,19 vom Tempel seines Leibes, von sich selber.
Wer kann das verstehen? Wer ist bereit, es zu verstehen? Wer kann das Alte in den Tod geben, und wer ist bereit zu glauben, dass Gott an etwas ganz anderem interessiert ist als am Pflegen von Traditionen, von Namen, von Formen, die über Jahrhunderte weiterexistieren? Wer will hören, dass Gott nicht Gefallen daran hat, wenn wir alte Kisten herumtragen, selbst wenn sie mit Gold überzogen wären, wie einst die Lade, ja mit Engeln geschmückt? Vielleicht stehe ich aber vor Gott und sage ihm: «Nein, ich will beim Alten bleiben, du kannst es mir nicht wegnehmen. Und wenn auch der Vorhang zerreisst – ich werde ihn wieder flicken. Das verspreche ich dir.»
Wir sind Gottes Bundeslade
Der eigentliche Punkt aber ist der: Jesus Christus ist ja nicht gestorben und auferstanden und hernach sogar aufgefahren, um seine Herrschaft als Friedefürst mit den durchbohrten Händen anzutreten, um uns hier unten auf Sparflamme zu lassen, einzig mit dem Trost eines ewigen Lebens durch Vergebung der Sünden. Eigentlich ist er für ein höheres Ziel gestorben. Ja, gibt es überhaupt etwas Höheres als Vergebung und dadurch eine Aussicht auf das Weiterleben im künftigen Himmelreich? Ja das gibt es wirklich. Paulus sagt: «Er, der seines einzigen Sohnes nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle hingegeben hat – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?» (Röm. 8,32) Er starb also, um uns «alles zu schenken».
Kurz darauf fährt er zum Himmel. So, hat er gesagt, ist es besser für sie. Weshalb? Weil sie ihn auch wieder zu einer Art Bundeslade machen würden. Sie nähmen seine leibhaftige Gegenwart jetzt als neue Garantie, dass alles gut kommt, und dass Gottes Reich auf Erden sicher eingepflanzt ist. Aber er verhindert noch einmal den Bundesladen-Effekt; er entzieht sich ihnen. Das ist Auffahrt, für die Jünger eigentlich ein Schock. Andersherum wäre es für sie besser und vor allem tröstlicher gewesen, nach allem, was geschehen war. Nochmals einen Entzug durchmachen? Nochmals einen Verlust? Trennung für immer? Hat Gott nun seinen Sohn «für uns gegeben» (Röm. 8,32) oder hat er uns mit ihm doch wieder alles genommen?
Was hat Paulus damit gemeint? Schauen wir zehn Tage über die Auffahrt hinaus nach vorn: Jerusalem wird, wie Jeremia im dritten Kapitel prophezeit, zum Thron Gottes. Gott kommt und setzt sich auf Menschen, wie er sich früher auf die Lade setzte, damals symbolisch, indem gelegentlich ein Licht, ein Schein, ein Duft, eine Wolke den Tempel erfüllte. So dass man, wie bei Salomons Tempeleinweihung oder bei Jesajas Berufung, kaum in den Tempel eintreten konnte. Jetzt setzt er sich als ein Feuer auf die zwölf Apostel. Er thront auf Menschen. Gott erwählt sich Menschen zu seinem Thron. Von ihnen will er in die Welt getragen werden, zu andern Menschen und Völkern, in andere Länder und Kontinente. Genau das geschieht an Pfingsten. Diese Zwölf tragen die Präsenz Gottes, die auf ihnen ruht, zu dreitausend weiteren Stadtbewohnern und Besuchern des Pfingstfestes. Sie lassen sich taufen, wie es 1500 Jahre später die Täufer tun werden, als wieder eine Erweckung ausbricht und die kirchlichen Traditionen für sie belanglos werden.
Die Menschen werden Gottes Bundeslade. Sie tragen nicht Buchstaben des Gesetzes und der Gesetzlichkeit in ihrem Innern, und auch nicht Erinnerungen an ein längst vergangenes Manna, sondern sie sind vom Geist Gottes selber erfüllt. Den Geist Gottes erkennt man hauptsächlich daran, dass er erwecklich wirkt. Menschen ringsherum werden angesteckt und fangen auch Feuer. Gebracht wird ihnen nicht ein Kirchensystem, eine Kirchen- oder Freikirchenkultur. Gelehrt werden ihnen nicht Traditionen, Meinungen, Ansichten, eine Betriebsphilosophie. Jesus Christus selber ist es, in der Gegenwart seines Geistes, der die Menschen berührt und erfüllt. Es sind Menschen, die nicht mehr die alten Kasten herumtragen, sondern seine Gefässe sein wollen und auch werden dürfen.
Jede Gemeinde hat ein Endlager für die alten Laden: Vorne das Kreuz. Und jede Gemeinde hat einen Aussendungsort für die lebendigen, die zweibeinigen Bundesladen: Die Kanzel. Jede Gemeinde muss hier Position beziehen. Will sie im Einklang mit dem, was in Jerusalem geschah, vorwärtsgehen und den Akzent so legen, wie das Neue Testament (und auch schon Jeremia und das prophetische Alte Testament) ihn legt? Will sie Erweckung, was die Versammlung und Aussendung von lebendigen Bundesladen unweigerlich mit sich bringen wird? Oder will sie doch lieber die generationenalte Prozession von Kästen weiterführen?
Zu mir hat Gott deutlich geredet und gesagt: «Paul, für dich ist die Zeit der alten Laden vorbei. Gib sie mir. Ich habe etwas Erfreulicheres für dich. Es ist meine persönliche Kraft, meine Weisheit. Ich will, dass du durch meine Augen schauen kannst. Ich will, dass du dich ganz in mir verlierst – um dich dann so wieder zu finden. Ich will auch, dass du Erweckung erlebst, auch wenn du jetzt pensioniert bist. Es ist nichts weniger als mich selber, den du gegen deine bisherigen Kasten eintauschen kannst. Und wer ich wirklich bin, kannst du erst hernach erfahren». Ich merkte sogar, welche Kästen es sind. Jeder weiss es von sich selber.
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